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Do., 6. Maerz 3000

»Die Avantgarde ist also der Auftakt zur Verwirklichung einer Neuheit, aber sie ist dazu nur der Auftakt. #Die Avantgarde hat ihr Feld nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart.# Sie beschreibt und beginnt eine mögliche Gegenwart, deren Gesamtheit im Lauf der Geschichte durch umfangreichere Verwirklichungen ihre Bestätigung finden wird (wobei sich ein gewisser Anteil von Fehlern zeigt). Die Aktivität der Avantgarde bekämpft die Gegenwart überall dort, wo sie von den Lasten der Vergangenheit gezeichnet ist, als eine Gegenwart ohne Authentizität (eine Verspätung). Streng genommen und verallgemeinert, ist eine Avantgarde unserer Zeit ein Projekt, das sich als die Überwindung der Gesellschaft in ihrer Totalität präsentiert, als Kritik und offene Konstruktion, die eine Alternative setzt, mit allen Fakten und Problemen, untrennbar von der bestehenden Gesellschaft. Die Avantgarde muss die bestehenden Zusammenhänge (durch Aufklärung und als ihre Spiegelung) im Namen eines neuen Zusammenhangs beschreiben; zusammenhängend (cohérent) bedeutet hier genau das Gegenteil von 'systematisch'. Seit der Ausbildung des speziell kulturellen Avantgardekonzepts um die Mitte des 19. Jahrhunderts und parallel zu der bestehenden politischen Avantgarde sind die geschichtlichen Manifestationen von der Avantgarde einer einzigen künstlerischen Disziplin übergegangen zum Aufbau einer Avantgarde, die sich auf die Gesamtheit des kulturellen Feldes ausdehnen will (Surrealismus, Lettrismus). Wir sind heute an einem Punkt angelangt, an dem die kulturelle Avantgarde sich nur mehr definieren kann, wenn sie mit der wirklichen politischen Avantgarde zusammengeht (indem sie diese als solche aufhebt).

Die erste und vorrangige Verwirklichung einer Avantgarde heute ist die Avantgarde selbst. Es ist gleichzeitig ihre schwierigste Verwirklichung; und dass dies von nun an als eine Vorbedingung gilt, erklärt lange Zeiten der Abwesenheit authentischer Avantgarden. Was gemeinhin als 'Verwirklichung' angesehen wird, ist eigentlich nur eine Konzession an die Banalitäten der alten kulturellen Welt. In diesem Sinne ist die heutige Tendenz des ganzen künstlichen Avantgardismus einzuordnen; sie setzt den Akzent auf 'Werke', an denen nichts sonderlich neu ist (und nur sehr wenige Nuancen von Unterschieden zu finden sind, die ideologische Mystifikationen als Reichtum und Originalität aufgewertet sehen wollen); im Gegensatz dazu geht jetzt eine Bewegung wie die S.I. dazu über, nicht nur ihre vereinzelten Projekte verborgen zu halten (von sich aus herunterzuspielen), sondern insbesondere die schon vollendeten Verwirklichungen (eingestuft als anti-situationistisch), abgestoßen davon, dass die vielen Nebenprodukte ihrer zentralen Aktivität - Selbstformation der Avantgarde - mehr wirkliche Neuheiten enthalten als jede andere künstlerisch-philosophische Produktion der letzten Jahre. Nur wenn sie nicht an die gegenwärtig akzeptierten Werke glaubt, macht die Avantgarde unter anderem 'die besten' der gegenwärtig akzeptierten Werke.

Bedenkt man nun, dass der Begriff schon ein Teil der Tradition geworden ist, so ist die Avantgarde in eine letzte Krise eingetreten; sie geht auf ihr Verschwinden zu. Die Anzeichen dieser Krise sind: die immer stärker hervortretende Schwierigkeit einer kulturellen Produktion der Avantgarde in den Bereichen, in denen sie offiziell anerkannt ist. In diesem Rahmen werden die - herausgelösten - Aktivitäten der (im engeren Sinne des Begriffs) wirklichen Avantgarde immer von der bestehenden Welt zurückgewonnen und letztlich eingesetzt, um das Wesentliche des alten Gleichgewichts aufrechtzuerhalten.« (Guy Debord nach: Roberto Ohrt. "Porträt der Fiktion als mögliche Gegenwart (II)". Jungle World, Nr. 37/2001 - 05. September 2001.)


Calendar for year 3000
Last modified: Mo., 07.07.2003 23:18