http://www.n0name.de/3000/fr0703.html
Fr., 7. Maerz 3000
das Konzept der unbegrenzten
Möglichkeiten/der Schriftsteller ist Wissenschaftler/die Fiktion ist die
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¾ . [Vorwort von J.G. Ballard zu seinem Roman Crash
[verfilmt von Cronenberg, m.s.]
Die englische Originalausgabe erschien 1973
unter dem Titel »Crash« bei Jonathan Cape Ltd., London 1973 by J.
G. Ballard
Deutsche Ausgabe 1996 Wilhelm Goldmann Verlag, München, ISBN
3-442-43574-9]
[evtl. Fusznotenangaben in eckigen Klammern geloescht, m.s.]
Einige Anmerkungen zu CRASH
Die Verbindung von Vernunft und Alptraum, die
das zwanzigste Jahrhundert beherrscht, hat eine in zunehmendem Maße unüberschaubarere
Welt hervorgebracht. Die #Gespenster unheimlicher
Technologien# und für Geld käuflicher Träume huschen über
die Kommunikationslandschaft. #Thermonukleare
Waffensysteme# und Werbesendungen für alkoholfreie Getränke existieren
nebeneinander in einem überleuchteten Gebiet, das von Werbung und Pseudo-Ereignissen,
Wissenschaft und Pornographie beherrscht wird. Unser aller Leben wird von den
beiden großen Zwillingsleitmotiven des zwanzigsten Jahrhunderts überschattet
- Sex und Paranoia. Ungeachtet von McLuhans Freude an superschnellen Informationsmosaiken,
werden wir doch ständig an Freuds profunden Pessimismus in Das Unbehagen
in der Kultur erinnert, an Voyeurismus und Selbstverachtung, die infantile Basis
unserer Träume und Sehnsüchte - diese Krankheiten der Psyche haben
nun im entsetzlichsten Ereignis des Jahrhunderts ihren Höhepunkt gefunden:
dem Affekt-Tod.
Diese Vermengung von Gefühl und Emotion hat den Weg für
unsere aufrichtigsten und zärtlichsten Genüsse geebnet - in der Freude
an Schmerz und Demütigung, im Sex als perfekter Arena, einem sterilen Nährboden
für Bakterienkulturen vergleichbar, der der Kultivierung unserer eigenen
Perversionen dient, in unserer moralischen [5]Freiheit, unsere eigene Psychopathologie
als Spiel auszuleben, #in unseren anscheinend
grenzenlosen Fähigkeiten zur Konzeptualisierung# [> Mi.,
12. Maerz 3000]-, und unsere Kinder müssen nicht die Autos auf den Straßen
von morgen fürchten, sondern unsere Freude, selbst die elegantesten Parameter
für ihren Tod zu berechnen.
#Die
Aufgabe, die unbehaglichen Freuden des Lebens in diesem trügerischen Paradies
zu dokumentieren, wurde mehr und mehr zur Rolle der Science-fiction.# Ich
bin der festen Überzeugung, daß die Science-fiction-Literatur, die
weit davon entfernt ist, ein unbedeutender Ableger zu sein, im Grunde genommen
die bedeutendste literarische Tradition des zwanzigsten Jahrhunderts repräsentiert,
ganz gewiß aber die älteste - eine Tradition der imaginativen Reaktion
auf Wissenschaft und Technologie, deren ununterbrochener Verlauf direkt von H.
G. Wells und Aldous Huxley über die zeitgenössischen amerikanischen
Science-fiction-Schriftsteller zu solchen modernen Erneuerern wie etwa William
Burroughs führt.
#Die bedeutendste
»Tatsache« des zwanzigsten Jahrhunderts ist das Konzept der unbegrenzten
Möglichkeiten. Dieses Prädikat von Wissenschaft und Technologie umfaßt
das Faktum eines Moratoriums der Vergangenheit -Irrelevanz und Tod der Vergangenheit
- und grenzenloser Alternativen, die der Gegenwart offenstehen.# Was den ersten
Flug der Gebrüder Wright mit der Erfindung der Pille verbindet, ist die soziale
und sexuelle Philosophie des Schleudersitzes.
Nimmt man diesen immensen Kontinent
der Möglichkeiten als gegeben, so kann man sich kaum eine Literatur vorstellen,
die besser ausgerüstet ist, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen,
als die Science-fiction. Keine [6] andere Form der Literatur verfügt über
das Vokabular an Einfällen und Vorstellungsbildern, um sich mit der Gegenwart
zu befassen, ganz zu schweigen von der Zukunft. Beherrschendes Charakteristikum
eines modernen Main-stream-Romans ist ein Gefühl individueller Isolation,
eine Stimmung der Verinnerlichung und Entfremdung, ein Geisteszustand also, der
grundsätzlich als Kennzeichen des Bewußtseins im zwanzigsten Jahrhundert
gilt.
Ganz im Gegenteil. Für mich ist das eine Psychologie, die gänzlich
dem neunzehnten Jahrhundert angehört, da sie Teil der Reaktion gegen die
ungeheuren Belastungen der bourgeoisen Gesellschaft, den monolithischen Charakter
des Viktorianismus und die Tyrannei des Paterfa-milias, der aufgrund seiner finanziellen
und sexuellen Autorität sicher war, ist. Abgesehen von deutlichen retrospektiven
Neigungen und der Besessenheit von der subjektiven Natur der Erfahrung, ist das
eigentliche Thema die Rationalisierung von Schuld und Entfremdung. Elemente dessen
sind Verinnerlichung, Pessimismus und Intellektualismus. Doch wenn etwas dem
zwanzigsten Jahrhundert angemessen ist, so ist es Optimismus, die Ikonographie
von Massenhandel, Naivität und unschuldiger Freude an den Möglichkeiten
des Geistes. [?, m.s.]
Die Art der Phantasie und Vorstellungskraft, die sich
derzeit in der Science-fiction-Literatur manifestiert, ist nicht neu. Schon Homer,
Shakespeare und Milton erfanden neue Welten, um unsere zu kommentieren. Die Abspaltung
der Science-fiction in ein separates und wenig geachtetes Genre ist eine jüngste
Entwicklung. Sie steht in enger Beziehung zum allmählichen Aussterben dramatischer
und philosophischer Poesie und dem langsamen Schwund des traditionellen Romans,
der sich in zuneh- [7] mendem Maße ausschließlich mit den Nuancen
zwischenmenschlicher Beziehungen beschäftigt. Unter den Themen, die der
traditionelle Roman fast ganz ausklammert, wäre zu allererst die Dynamik
menschlicher Gesellschaften zu nennen (der traditionelle Roman neigt dazu, die
Gesellschaft als statisch anzunehmen), des weiteren den Platz der Menschheit im
Universum. So schlecht und naiv sie auch sein mag, bemüht sich die Science-fiction
wenigstens, die bedeutendsten Ereignisse unseres Lebens und unseres Bewußtseins
in einen philosophischen und metaphysischen Rahmen einzubetten.
Wenn ich
in dieser Form der Science-fiction-Literatur eine Lanze breche, so liegt das teilweise
natürlich auch daran, daß sich meine eigene schriftstellerische Laufbahn
seit nunmehr fast zwanzig Jahren innerhalb dieses Genres bewegt. Doch schon zu
Beginn, als ich mich der Science-fiction zu wandte, war ich der Überzeugung,
#daß die Zukunft einen besseren Schlüssel
zur Gegenwart bietet als die Vergangenheit#. Damals war ich aber auch schon
unzufrieden mit der Besessenheit der Science-fiction für zwei grundlegende
Themen - Weltraum und ferne Zukunft. Ich selbst nannte das neue Terrain, das ich
bearbeiten wollte, sowohl aus emblematischen als auch aus theoretischen oder programmatischen
Gründen, mit der Bezeichnung #»inner
space«# (Innenwelt/Innenraum) und meinte damit jene psychologische Domäne
- die etwa in der surrealistischen Malerei zum Ausdruck kommt -, wo die Innenwelt
des Verstandes und die Außenwelt der Realität einander begegnen und
aufeinander einwirken.
Vornehmlich wollte ich Literatur über die Gegenwart
schreiben. Das im Kontext der späten fünfziger Jahre zu bewerkstelligen,
in einer Welt, in der #das Piepsen des Sput-
[8] nik wie das Fanal eines neuen Universums# über Funk gehört
werden konnte, erforderte völlig andere Techniken als diejenigen, die dem
Romancier des neunzehnten Jahrhunderts zur Verfügung standen. Wenn es möglich
wäre, die gesamte existierende Literatur über Bord zu werfen und ohne
Wissen um die Vergangenheit völlig neu zu beginnen, so würde jeder
Schriftsteller zwangsläufig etwas hervorbringen, das der Science-fiction
sehr nahe käme. [<- ~, m.s.]
Wissenschaft und Technologie nehmen in
unserer Welt einen immer breiteren Raum ein. Sie diktieren in zunehmendem Maße
die Sprache, in der wir denken und sprechen. Entweder wir bedienen uns dieser
Sprache, oder aber wir bleiben stumm und ungehört. [W. und T. sind Teil unserer
Sprache, m.s.]
Und doch wurde die Science-fiction infolge eines ironischen
Paradoxons zum ersten Opfer der veränderten Welt, die sie vorhersah und an
deren Erschaffung sie selbst aktiven Anteil hatte. #Die
Zukunft, die von der Science-fiction der vierziger und fünfziger Jahre vorhergesehen
wurde, ist bereits unsere Vergangenheit. Ihre beherrschenden Bilder, nicht nur
des ersten Mondflugs und der interplanetaren Reisen, sondern die unserer veränderlichen
sozialen und politischen Beziehungen in einer von der Technologie regierten Welt,
erinnern heute an große, ausrangierte Bühnenkulissen. Für mich
läßt sich das am ergreifendsten anhand des Films 2001 - Odyssee im
Weltall darstellen, der das Ende der heroischen Periode der modernen Science-fiction
versinnbildlicht - die liebevoll erdachten Szenarien und Kostüme und die
gewaltige Kulisse erinnern mich an Vom Winde verweht, ein wissenschaftliches Schaugepränge,
das zu einer Art historischer Romanze wurde, eine abgesiegelte Welt, in die das
grelle Licht der Gegenwartsrealität niemals eindringen durfte.# [9]
Unsere Konzepte von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind in zunehmendem
Maße einem ständigen und erzwungenen Wandel unterworfen. So, wie die
Vergangenheit in sozialen und psychologischen Begriffen zum Opfer von Hiroshima
und dem Atomzeitalter wurde (beinahe per Definition eine Periode, in der wir alle
gezwungen sind, vorausschauend zu denken), #hört
auch die Zukunft auf zu existieren, da sie von der allumfassenden Gegenwart verdrängt
wird. Wir haben die Zukunft als eine von vielen uns offenstehenden Möglichkeiten
in die Gegenwart integriert. Entscheidungsmöglichkeiten vermehren sich
zusehends um uns, wir leben in einer fast infantilen Welt, in der jede Forderung
und jede Möglichkeit, sei es nun hinsichtlich von Lebensstil, Reisen, Geschlechterrollen
und Identitäten, beinahe augenblicklich befriedigt werden kann.
Darüber
hinaus bin ich auch der Meinung, daß sich das Verhältnis zwischen Fiktion
und Realität im zurückliegenden Jahrzehnt drastisch verändert
hat. Deren Rollen werden zunehmend umgekehrt.# Wir leben in einer von Fiktionen
aller Art beherrschten Welt - Massenproduktion, Werbung, Politik [~ war eine "damalige
Realität" nicht immer schon anteilig fiktional?, m.s.] als ein Zweig
des Werbegeschäfts, die augenblickliche Umwandlung von Wissenschaft und
Technologie in populäre Bildersprache, die zunehmende Verschmelzung von
Identitäten auf dem Gebiet der Konsumgüter, die Vorwegnahme jeder freien
und originellen imaginativen Reaktion auf Erfahrungen durch das Fernsehen. Wir
selbst leben in einem voluminösen Roman. Besonders für den Schriftsteller
ist es immer weniger nötig, den fiktiven Inhalt seines Romans zu ersinnen.
#Die Fiktion ist bereits vorhanden. Aufgabe
des Schriftstellers ist es, die Realität zu erfinden.# #[->
vgl. Hyperfiktion-oder-so-Konzept von ---]# [10]
In der Vergangenheit
haben wir immer angenommen, daß die äußere Welt um uns die Realität
repräsentiert, so verwirrend, unüberschaubar und unsicher diese auch
sein mochte; die innere Welt unseres Verstandes, unserer Träume, Hoffnungen
und Ambitionen aber die Gefilde von Phantasie und unserer Vorstellungskraft. Mir
scheint, daß auch diese Rollen eine Umkehrung erfahren haben. Die besonnenste
und effektivste Methode, sich mit der Welt um uns herum auseinanderzusetzen, besteht
in der Annahme, daß sie lediglich eine Fiktion ist - oder umgekehrt, daß
das letzte Restchen der Realität, das uns noch bleibt, sich im Innern unserer
Köpfe befindet. Freuds klassische Unterscheidung zwischen dem latenten und
dem manifestierten Inhalt unserer Träume, zwischen Sein und Schein, muß
nun auch auf die Außenwelt unserer sogenannten Realität angewendet
werden.
Zieht man all diese Veränderungen in Betracht, so muß man
sich fragen, wo dann die Hauptaufgabe für den Schriftsteller liegt? Kann
er sich überhaupt noch der Techniken und Perspektiven des traditionellen
Romans des neunzehnten Jahrhunderts bedienen, der gekennzeichnet ist durch eine
lineare Erzählform, eine abgemessene Chronologie und konsularischen Figuren,
die ihre Domänen innerhalb fixer Parameter von Raum und Zeit bewohnen? Kann
sein Thema die tief in der Vergangenheit verwurzelte Quelle von Charakter und
Persönlichkeit, die langsame Erkundung dieser Wurzeln und die subtilste Nuancierung
sozialen Verhaltens und persönlicher Beziehungen sein? Verfügt der Schriftsteller
überhaupt noch über die moralische Autorität, eine unabhängige
und abgeschlossene Welt zu erfinden, um dann wie ein Beobachter über seine
Figuren zu herrschen, deren Fragen er alle schon im voraus [11] kennt? Kann er
alles weglassen, das nicht zu begreifen er vorzieht, eingeschlossen seine eigenen
Motive, Vorlieben und seine Psychopathologie?
Ich persönlich bin der
Auffassung, daß sich die Rolle des Schriftstellers, seine Autorität
und sein Recht zu handeln, drastisch gewandelt haben. Ich bin gewissermaßen
der Ansicht, daß #der Schriftsteller#
nichts mehr weiß. Er hat keinen moralischen Standpunkt. Er bietet dem Leser
den Inhalt seines eigenen Kopfes, er breitet eine Anzahl von Möglichkeiten
und imaginären Alternativen vor ihm aus. #Seine
Rolle ist die des Wissenschaftlers, auf Safari oder im Laboratorium, der sich
mit einem völlig unbekannten Subjekt oder Terrain konfrontiert sieht. Er
kann lediglich verschiedene Hypothesen erstellen und sie mit den Fakten abwägen.#
Crash ist so ein Buch, eine extreme Metapher für eine extreme Situation,
ein Bündel verzweifelter Wertmaßstäbe für Krisensituationen.
Wenn ich recht habe - und ich habe mich in den zurückliegenden Jahren bemüht,
die Gegenwart für mich selbst neu zu entdecken -, dann nimmt Crash eine
Position als Katastrophenroman der Gegenwart in einer Linie mit meinen früheren
Schilderungen von Katastrophen der nahen und nahesten Zukunft, etwa The Drowned
World (Karneval der Alligatoren), The Droght (Welt in Flammen) und The Crystal
World (Kristallwelt), ein.
Aber selbstverständlich befaßt sich
Crash nicht mit einem imaginären Desaster, sondern mit einer allgemein verbreiteten
Katastrophe, die in allen Industrienationen institutionalisiert ist, in denen
Jahr für Jahr Hunderte und Tausende von Menschen getötet und Millionen
verletzt werden. Sehen wir selbst im Autounfall das unheimliche [12] Omen einer
alptraumhaften Verbindung von Sex und Technologie? Versorgt uns die moderne Technologie
mit Mitteln und Möglichkeiten, unsere Psychopathologien auszuleben, von denen
wir bisher nicht zu träumen wagten? Liegt in dieser Nutzbarmachung unserer
brachliegenden Perversion ein Nutzen für uns? Liegt ihr eine trotzige Logik
zugrunde, die mächtiger als jede Vernunft ist?
Ich habe in Crash das
Automobil nicht nur als sexuelles Sinnbild dargestellt, sondern auch als Metapher
für das Leben der Menschen in der modernen Gesellschaft. Daher hat das Buch
auch eine sehr politische Rolle, die nichts mit dem sexuellen Inhalt zu tun hat,
aber ich würde Crash trotzdem als ersten pornographischen Roman ansehen,
der auf der Technologie basiert. In gewissem Sinne ist die Pornographie die politischste
Form von Literatur, denn sie befaßt sich damit, wie wir uns gegenseitig
auf die ruchloseste und schonungsloseste Weise ausbeuten und benützen.
Es erübrigt sich wahrscheinlich zu sagen, daß Crash in erster Linie
eine Warnung sein soll, eine Warnung vor den brutalen, grell erleuchteten Gefilden,
die sich immer deutlicher an den Randgebieten der technologischen Landschaft
abzeichnen.
J. G. Ballard
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