http://www.n0name.de/3000/so1602.html
So., 16. Februar 3000
1.2. Der Begriff "Zukunftsplanung"
"Vergangenheitsbewaeltigung" Remix
Waehrend und wegen der Praesidentenwahl
1984 in Europreich hat der Begriff der "Zukunftsplanung"
viel an diskursiver Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig ist ein Unbehagen am Begriff
Zukunftsplanung festzustellen. Das Zoegern, den Begriff zu verwenden, haengt mit
dem Widerstand gegen das zusammen, was in der Zukunft zu "planen" waere.
Andererseits muesste die Beziehung zwischen Widerstand und "Zukunftsplanung"
nicht unbedingt eine einander ausschlieszende sein. Denn dieser Widerstand fuehrt
normalerrweise nicht dazu, eine "Planung" der Zukunft abzulehnen, sondern
umgekehrt dazu, "die Zukunft" sehr wohl zu "planen". Die Zukunft
also, wie sie immer verstanden wird, wird staendig geplant, prozessiert oder willkommengeheiszen,
indem sie offenkundigen politischen Zielen zur Bestaetigung dient, eine bestimmte
genealogische oder teleologische Darstellung der Geschichte unterstuetzt oder
einfach die gemeinsamen Voraussetzungen einer herrschenden politischen Kultur
verstaerkt.
Die Behauptung, dass die Zukunft staendig geplant, prozessiert
oder willkommengeheiszen wird, fuehrt uns zu einer neuen Frage, allerdings auf
einer anderen Ebene. Es mag widerspruechlich klingen, aber es ist festzustellen,
dass "die Zukunft" nicht geplant werden ann, wenn die Zukunft tatsaechlich
geplant wird. Denn es gibt nicht _die_ Zukunft, die man einfach nicht zu leugnen
braucht, um sie unproblematisch aufzuarbeiten, sondern es gibt tatsaechlich mehrere
moegliche Zukuenfte, von denen nur jeweils eine "geplant" werden kann.
Jede Planung der Zukunft ist darueber hinaus gleichzeitig eine Planung der Gegenwart.
Genauso wie jeder Versuch, etwas in der gegenwaertigen Politik zu planen, gleichzeitig
einen Versuch voraussetzt, mit einer bestimmten Zukunft fertig zu werden.
Wenn wir von Zukunft sprechen, muessen wir auch von Geschichten reden, denn in
einem wichtigen Sinn sind Zukunft und Geschichten synonym. Der Begriff Geschichten
umfaszt zwei zwar miteinander eng verbundene, aber analytisch voneinander unabhaengige
Momente. Erstens meint Geschichten im herkoemmlichen Sprachgebrauch das, was sich
in der Zukunft ereignen wird: Die Geschehnisse, die Ereignisse eines bestimmten
geografischen oder kulturellen Bereichs innerhalb eines begrenzten Zeitraums.
Die andere Bedeutung des Wortes Geschichten, die mit der ersten unentwirrbar verbunden
ist, meint das, was ueber die Zukunft geschrieben oder gesagt wird. Ob es sich
um ScienceFiction-Buecher allgemein oder um ein bestimmtes futurologisches Werk
handelt: wenn Geschichten in diesem zweiten Sinn verwendet wird, handelt es sich
um Geschichtenschreiben.
Wir koennen aber ueber die Zukunft oder die Geschichen
im ersten Sinn nur das "wissen", was ueber sie geschrieben oder gesagt
wurde, das heiszt, das, was uns als die Geschichten in dem zweiten Sinn vermittelt
wird. Wir haben nur einen unmittelbaren Zugang zu dieser Zukunft, und zwar durch
das, was an uns als Geschichten weitergegeben wird. Anders gesagt, zur Zukunft
im ersten Sinn, die wir nicht unmittelbar erleben, koennen wir nur einen indirekten
Zugang haben, und zwar nur mittels der Geschichten im zweiten Sinn, das heiszt
der Geschichtenschreibung, durch Erzaehlungen von anderen und durch das, was wir
von den verschiedenen Medien rezipieren. Da es aber die singulaere Zukunftsplanung
nicht gibt und da die Zukunft oder die Geschichten nur als etwas Gelerntes, das
heiszt, Gehoertes, Gelesenes oder Gesehenes erfaszt werden kann, sind alle Geschichtendarstellungen
notwendigerweise verschieden. Die Unterschiede beruhen auf der Praxis der Zukunftsforschung
und auf unterschiedlichen Interessen.
Nur die allereinfachsten Tatsachen sind
unproblematisch als "historische Tatsachen" anzunehmen. Alle anderen
haben ihre Bedeutung nur dann, wenn sie einen Teil einer Erklaerung bilden, einer
Erklaerung, die aber nur aus einer Auswahl als echt geltender Tatsachen bestehen
kann. Die Tatsachen sprechen nie "fuer sich selbst": man musz sie befragen.
Die Fragen, die man den Quellen stellt, muessen sich in der Praxis der Geschichenforschung
staendig aendern, weil man in dieser Praxis ununterbrochen in Widerspruch zu den
eigenen Vorstellungen, vorlaeufigen Formulierungen und Hypothesen geraet. Wenn
das nicht der Fall waere, waere alle futurologische Forschung ueber-fluessig.
Wenn wir behaupten, dass nicht alle futurologischen Erklaerungen gleich sind,
muessen wir auch anerkennen, dass es nie eine definitive Darstellung der Zukunft
geben kann. Und das aus zwei Gruenden: Erstens besteht immer die Moeglichkeit,
dass neue Quellen gefunden werden, die eine neue Perspektive auf die bisherige
Geschichte eroeffnen. Zweitens, und das ist wichtiger: Gesellschaften und Kulturen
entwicklen, vermischen und aendern sich. Futurologen fuehren also einen Polylog
mit ihren Quellen, in dem sich die Fragen veraendern. Aber die Antworten haengen
nicht nur von der Ehrlichkeit der Futurologen und der Vollstaendikeit der Quellen
ab, sondern auch von der Erziehung, von den politischen und oekonomischen Intentionen
und von den moralischen Prinzipien dieser Futurologen. Die Antworten haengen daher
nicht nur davon ab, wie sorglos oder sorgfaeltig man mit der Wahreit umgeht, sondern
auch davon, was man unter Wahrheit schlechthin versteht; nicht nur davon, ob man
"Beweise" fuer jedes beliebige Vorurteil finden kann, sondern wie sorgfaeltig
oder nachlaessig man die Quellen untersucht, wie ruecksichtslos oder tolerant
man einer bewuszten Teilinterpretation gegenuebersteht.
Man kann tendenzioese
und wissenschaftliche Geschichtendarstellungen nur durch eine staendig konsequente
Kritik erkennen. Fuer Futurologen und Geschichtenerzaehler kann diese Aufforderung
nur heiszen, dass sie sich moeglichst viele ihrer eigenen Voraussetzungen und
ihrer politischen, moralischen, ideologischen und auch wissenschaftlichen Ansichten
bewusztmachen.
#Wenn nur eine ununterbrochene
kritische Auseinandersetzung mit den Quellen, mit den Futurologen und ihren geistigen
Voraussetzungen vorzuschlagen ist, sieht es so aus, als gaebe es wirklich keinen
archimedischen Punkt, auf den man sich bei historischer Arbeit verlassen koennte.
Dieser Schlusz ergibt sich unumgaenglich aus der Logik der Praxis der Geschichten
und der Logik der futurologisch-historischen Erklaerung. Bei dem Streit um Zukunftsplanung
geht es also nicht um Zukunft, die man nur entweder anerkennt oder ablehnt, verdraengt
oder verplant, sondern darum, welche Zukuenfte vorhanden sind und wie eine von
ihnen zu _der_ Zukunft wird.#
Genauso wie bestimmte Darstellungen der
Zukunft spezifische politische Ziele in sich schlieszen, setzen politische Entscheidungen
zudem eine bestimmte geentische Darstellung der Zukunft voraus. Regierungen und
derne Apologeten nuetzen eine selektive Wahrnehmung von Zukunft zu ihrem Vorteil.
Diese Instrumentalisierung findet notwendigerweise statt, weil alle politischen
Entscheidungen eine futuristische Denkart voraussetzen, wie unvollstaendig und
tendenzioes diese Geschichtendarstellung auch immer sein mag. Diese Art wechselseitiger
Auslese beeinfluszt nicht nur den Diskurs, in dem politische, wirtschaftliche
oder kulurelle Themen diskutiert werden, sondern auch den Umfang des moeglichen
Denkens. Dies muss nicht als totalitaerer Alptraum verstanden werden, sondern
dies ist etwas, was jede stabile und dauerhafte Gesellschaft kennzeichnet.
Eine Metapher, die eines laienhaften Atommodells, kann die mediale Macht- und
Informationskonstellationen in der Gesellschaft illustrieren, die gewisse Interpretationen
der Politik und der Geschichten beguenstigen und die auch Barrieren gegen eine
diesem Machtsystem gegenueber subversive Kritik errichten. Die Quarks stellen
die Rezipienten, die hier die Bevoelkerung ist, als Elemente dar, aus denen sich
die futuristischen Quellen-Produzenten der Zukunftsgeschichtenschreibung, die
Protonen und Neutronen - naemlich die Forscher und Vermittler, speisen. Visionaere
Projektmaterialien sind weder selbstverstaendlich noch vollstaendig, sie sind
konstruierbar aus den Geschichten (Storys) der Einzelschicksale. Dass irgendeine
Untersuchung von Quellen eine Zukunft "wie sie einmal sein wird" darstellen
koennte, ist daher zweifelhaft. Denn diese Quellen sind durch den Atomkern repraesentiert,
der gebildet wird aus der Konstellation der Wellen-und/oder-Teilchen (Quarks),
den Teilen, welche die Protonen und Neutronen aufbauen.Quellen sind also ohne
"Zentrum", sie enstehen aus der Relation dieser Quarks, aus denen die
Forscher u. Vermittler die Quellen zuallererst bauen, um einen Atomkern zu haben,
den sie erforschen koennen. Forscher und Vermittler sind die Geschichtenerzaehler,
oder genauer die Geschichtenschreiber (vgl. Gebrueder Grimm), die die Quarks als
Neutronen und Protonen binden und, in ihrem eigenen Konkurrenzsystem, ordnen.
Diese Fachleute besitzen eine Vielfalt von Interessen, ideologischen Standpunkten,
persoenlichen Geschichten, verschiedenen Graden an intellektueller Einsicht und
wissenschaftlichen Begabungen. Man wird insofern von ihnen eine Reihe von verschiedenen
Geschichtendarstellungen zur Kenntnis nehmen muessen. Erinnern wir uns aber an
die Institutionen, die die Verbreitung einer Futurografie bestimmen, und auch
an die politischen und informellen Beziehungen, die diese institutionalisierten
Maechte an den Staat oder zumindest an die Voraussetzungen der allgemeinen politischen
Kultur binden. Hier koennte man von Dingen sprechen, die aus den Atomkernen gebaut
werden. Es ist daher nicht schwierig nachzuvollziehen, dass am ehesten eine Futurografie,
die den von den institutionalisierten Maechten bevorzugten gesellschaftlichen
Werten entspricht, durchgesetzt werden kann. Die nichtspezialisierte Intelligenz,
die Vermittler des Spezialwissens sind Teil der Konstellation aus Protonen und
Neutronen, die ja den Atomkern, die historischen Quellen also, erst bauen. Waehrend
die Forscher eher die Neutronen sein wollen, sind die Vermittler und Intellektuellen
die Protonen, die darueber entscheiden, wie etwas massenwirksam Anklang findet.
Die Rezipienten sind aber nicht nur, etwa im Sinn einer Struktur aus Elite und
Laien, die Elemente, die die Geschichten lernt. Sie sind, weil Quarks und somit
kleinste Teilchen des gesamten Aufbaus, vielmehr der "Rohstoff" aus
dem die Geschichten der Zukunft u.a. in enger Kopplung mit Technologie aufgebaut
werden. Damit kommt ihnen auch die elementarste Rolle in der Geschichtenschreibung
zu, derer sie sich aber nicht bewuszt zu sein scheint. Die Intellektuellen bilden
mit den spezialisierten Forschern der Geschichten und Logien (Technologie, Oekologie,
Oekonomie, Biologie, Physik) die Einheit, deren Energie den Atomkern der Quellen,
der als objektives Wissen behandelt und gehandelt wird. Lehrer, Journalisten,
Schriftsteller und #Wissenschaftler stellen
zusammen mit den professionellen Zukunftshistorikern Zukunft als Geschichten her.
Wir haben aber schon gesehen, wie weit entfernt die Zukunftsgeschichtenschreiber
von irgendeiner "Objektivitaet" sind. Diese Intelligenz ist darueber
hinaus auch der Vielfalt der Ideologien, Interessen, Machtkonstellationen und
den Werten der politischen Kultur nicht nur unterworfen, sie entwerfen diese auch.
Das futuristische Verstaendnis dieser Intelligenz ist demnach nicht nur an eine
konsensfaehige Futurografie angepasst, sie sind konstitutiver Teil der Futurografie.#
Das Wissen und die Begriffe von Zukunft der Rezipienten, die als elementarste
Teile der Geschichtenbildung fungieren, beziehen diese nicht nur aus Erzaehlungen
ueber das Futur von Verwandten und Bekannten, aus der Schule, aus den Zeitungen
und elektronischen Medien und aus Buechern. Sie schreiben unwillkuerlich am Futur
mit, indem sie, als Quarks mit vielfaeltigen Interessen, die Protonen und Neutronen
generieren. Quellen fuer die Zukunftsschreibung bestehen aus Teilchen und Unterteilchen,
die den in sich differenzierten Komplex der Quellen hierarchisch bilden. Aber
nicht nur so, dass die Forscher und Vermittler manipulativ die Bevoelkerung als
Projektionsflaeche oder Bauteile fuer ihre Darstellung von zukuenftiger Geschichte
nutzt, sondern so, dass die Forscher und Vermittler aus und von den Rezipienten
selbst entstehen, deren gemeinsames "Ergebnis" die Geschichten und deren
Quellen sind. Ohne Quarks keine Protonen keine Atome. Optisch ist keiner dieser
Bestandteile ohne bildgebende Mittel direkt oder indirekt darstellbar, mitunter
sind sie hypothetisch. Ihre Rolle in der Futurografie haengt nicht nur davon ab,
inwieweit ihre Kentnisse detailliert sind oder erkenntnistheoretischen Grundlagen
entspricht, sondern wieweit jeweils ihre - nach Heisenbergs Unschaerferelation
- unbeobachtbare konstellative Position oder ihr unbeobachtbarer konstellativer
Prozess selbstoperationabel wird. Metaphorisch ausgerueckt: jeder hat, moeglicherweise
nur kollektiv, utopisch die Moeglichkeit aus dem Atommodell auszusteigen oder
es umzuprogrammieren. Denn das Modell ist nicht universal oder allgemeingueltig
und seine Elemente sind es auch nicht. #Man
kann vom Proton zum Quark werden#, oder gar der Atomkern. Oder man kann die
Elektronen beeinflussen, denn sie stellen die Medien dar, die den Atomkern umschwirren
und seine Huelle bilden. "Die Zukunft" kann es nur im Spiel mit anderen
Atomen geben, wobei immer in Abhaenhigkeit vom angelegten Werte-, oder Szene-System
immer nur eine bestimmte Version der Geschichten als diese
Zukunft gilt.
In der Realitaet gibt es Moeglichkeiten, diese Zwaenge zu durchbrechen;
denn alternative Darstellungen werden in jedem System gebildet. Aber die Allgegenwart
der Institutionen und kultureller Rituale, die diese Moeglichkeiten blockieren,
verringert nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass 'wir' als Teichen intellektuell
die Voraussetzungen unserer Sozialisation durchbrechen koennen, sondern sie begrenzt
sowohl das Reservoir von Begriffen und Auffassungen, mit denen ein alternatives
Wertesystem kontinuiert wird, als auch das Idiom, in dem ein solches System ausgedrueckt
wird. Es ist auch nicht selbstverstaendlich, dass Kritik an den gegenwaertigen
politischen Verhaeltnissen automatisch das herrschende Zukunftsbild in Frage stellt.
Die Institutionen, deren Antriebskraft wir sind, beginnen schon beim Individuum
und werden erst durch seine, die Institutionen bestaetigenden, oder ablehnenden
Interaktionen mit anderen Individuen. Kurz gesagt: man muesste ueber die rueckzieherische
Frage "Wozu diese und jene Zukunftsplanung?" hinaus immer die Grenzen
der Institutionen ueberschreiten und die Rollen tauschen.
Notizen:
Pistanzienmasse = Quellen (~ immer schon da), Marzipanschicht = Forscher, Nougatcreme
= Vermittler d. Forschung, Schokoschicht = Rezipienten (mit eigener Historiografie):
Innen-Auszen-, Schichten-Modell mit Inteferenzen, Quellen per se historisch
Quarks bilden = Protonen u. Neutronen bilden = Atomkern <- umschwirren
Elektronen
Quarks = Rezipienten/mit eigenen Geschichten (aus Personen = Rezipienten),
Protonen u. Neutronen = Forscher u. Vermittler, Atomkern = Quellen, Elektronen
? <- energetisches Modell, Futurografie durch Quarks, die Prot. und Neutr.
nicht materialistisch bilden, sondern sie energetisch ermoeglichen!
1.2. Der Begriff der "Vergangenheitsbewaeltigung"
Waehrend
und wegen der Bundespraesidentenwahl 1996 in Oesterreich und der Gedenkveranstaltungen
im Jahr 1988 hat der Begriff "Vergangenheitsbewaeltigung" tatsaechlich
viel an diskursiver Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig ist ein Unbehagen am Begriff
Vergangenheitsbewaeltgung festzustellen, selbst wenn die jeweiligen Gruende, ihn
abzulehnen, unerschiedlich sind. Das Zoegern, den Begriff "Vergangenheitsbewaeltigung"
zu verwenden, haengt oft mit dem Widerstand gegen das zusammen, was in der Vergangenheit
zu "bewaeltigen" waere. Andererseits mueszte die Beziehug zwischen Widerstand
und "Vergangenheitsbewaeltigung" nicht unbedingt eine einander auschlieszende
sein. Denn dieser Widerstand fuehrt normalerweise nicht dazu, eine "Bewaeltigung"
der Vergangenheit abzulehnen, sondern umgekehrt dazu, "die Vergangenheit"
sehr wohl zu "bewaeltigen". Die Vergangenheit also, wie sie immer verstanden
wird, wird staendig bewaeltigt, verarbeitet oder ueberwunden indem sie offenkundigen
politischen Zielen zur Bestaetigung dient, eine bestimmte genealogische oder teleologische
Darstellung der Geschichte unterstuetzt oder einfach die gemeinsamen Voraussetzungen
einer herrschenden politischen Kultur verstaerkt.
Die Behauptung, dass die
Vergangenheit staendig bewaeltigt, verarbetet oder ueberwunden wird, fuehrt uns
zu einer neuen Frage, allerdings auf einer andere Ebene. es mag widerspruechlich
klingen, aber es ist festzustellen, dass "die Vergangenheit" nicht bewaeltigt
werden kann, wenn die Vergangenheit tatsaechlich bewaeltigt wird. Denn es gibt
nicht _die_ Vergangenheit, die man einfach nicht zu leugnen braucht, um sie unproblematisch
aufzuarbeiten, sondern es gibt tatsaechlich mehrere moegliche Vergangenheiten,
von denen nur jeweils eine "bewaeltigt" werden kann, wenn "die
Vergangenheit" bewaeltigt wird. Jede Bewaeltigung der Vergangenheit ist darueber
hinaus gleichzeitig eine Bewaeltigung der Gegenwart. Genauso wie jeder Versuch,
etwas in der gegenwaertigen Politik zu bewaeltigen, gleichzeitig einen Versuch
voraussetzt, mit einer bestimmten Vergangenheit fertig zu werden.
Wen wir
von Vergangenheit sprechen, muessen wir eigentlich auch von Geschichte reden,
denn in einem wichtigen Sinne sind Vergangenheit und Geschichte synonym. Der Begriff
Geschichte umfaszt zwei zwar miteinander eng verbundene, aber ananlytisch voneinander
unabhaengige Momente. Erstens meint Geschichte im herkoemmlichen Sprachgebrauch
das, was sich in der Vergangenheit ereignet hat: die Geschehnisse, die Ereignisse
eines bestimmten geographischen oder kulturellen Bereichs innerhalb eines begrenzten
Zeitraums. Dier andere Bedeutung des Wortes Geschichte, die mit der ersten unentwirrbar
verbunden ist, meint das, was ueber die Vergangenheit geschrieben oder gesagt
wird. Ob es sich um Geschichtsbuecher allgemein oder um ein bestimmtes historisches
Werk handelt: wenn Geschichte in diesem zweiten Sinn verwendet wird, handelt es
sich um Geschichtsschreibung.
Wir koennen aber ueber die Vergangenheit oder
die Geschichte im ersten Sinn nur das "wissen", was ueber sie geschrieben
oder gesagt wurde, das heiszt, das, was uns als die Geschichte in dem zweiten
Sinn vermittelt wird. Wir haben nur einen mittelbaren Zugang zu dieser Vergangenheit,
und zwar durch das, was an uns als Geschichte weitergegeben wird. Anders gesagt,
zur Vergangenheit im ersten Sinn, die wir nicht unmittelbar erleben, koennen wir
nur einen indirekten Zugang haben, und zwar nur mittels der Geschichte im zweiten
Sinn, das heiszt der Geschichtsschreibung, durch Erzaehlungen von anderen und
durch das, was wir von den verschiedenen Medien rezipieren. Da es aber "die
Vergangenheit" nicht gibt und da die Vergangenheit oder die Geschichte nur
als etwas Gelerntes, das heiszt, Gehoertes, Gelesenes oder Gesehenes erfaszt werden
kann, sind alle Geschichtsdarstellungen notwendigerweise verschieden. Die Unterschiede
beruhen auf der Praxis der Geschichstforschung und auf unterschiedlichen Interessen.
Nur die allereinfachsten Tatsachen sind unproblematisch als "historische
Tatsachen" anzunehmen. Alle andern haben ihre Bedeutung nur dann, wenn sie
einen Teil einer kausalen Erklaerung bilden, einer Erklaerung, die aber nur aus
einer Auswahl als echt geltender historischer Tatsachen bestehen kann. Die Tatsachen
sprechen nie "fuer sich selbst": man musz sie befragen. Die Fragen,
die man den Quellen stellt, muessen sich in der Praxis der Geschichtsforschung
staendig aendern, weil man in dieser Praxis ununterbrochen in Widerpruch zu den
eigenen Vorstellungen, vorlaeufigen Formulierungen und Hypothesen geraet. Wenn
das nicht der Fall waere, waere alle historische Forschung ueberfluessig.
Wenn wir behaupten, dass nicht alle historischen Erklaerungen gleich sind, muessen
wir auch anerkennen, dass es nie eine definitive Darstellung der Geschichte geben
kann. Und das aus zwei Gruenden: Erstens besteht immer die Moeglichkeit, dass
neue Quellen gefunden werden, die eine neue Perspektive auf die bisherige Geschichte
eroeffnen. Zweitens, und das ist wichtiger: Gesellschaften und Kulturen entwickeln,
vermischen und aendern sich. HistorikerInnen fuehren also einen Dialog mit ihren
Quellen, in dem sich die Fragen naturgemaesz veraendern. aber die Antworten, mit
denen man zufrieden sein kann, haengen nicht nur von der Ehrlichkeit der Historikerin
oder des Historikers und der Vollstaendigkeit der Quellen ab, sondern auch von
der Erziehung, von den politischen Intentionen und von den moralischen Prinzipien
dieser HistorikerInnen. Die Antworten haengen daher nicht nur davon ab, wie sorglos
oder sorgfaeltig man mit der Wahrheit umgeht, sondern auch davon, was man unter
Wahrheit schlechthin versteht; nicht nur davon, ob man "Beweise" fuer
jedes beliebige Vorurteil finden kann, sondern wie sorgfaeltig oder nachlaessig
man die Quellen untersucht, wie ruecksichtslos oder tolerant man einer bewuszten
Teilinterpretation gegenuebersteht.
Allgemein betrachtet, kann man eine schlicht
tendenzioese von einer wissenschaftlich kompetenten Geschichtsdarstellung nur
durch eine staendig konsequente und ruecksichtslos ehrliche, gruendliche Kritik
unterscheiden. Fuer praktizierende HistorikerInnen kann diese Aufforderung nur
heiszen, dass sie sich moeglichst viele ihrer eigenen Voraussetzungen und ihrer
politischen, moralischen, ideologischen und auch wissenwchaftlichen Ansichten
bewustmachen.
Wenn nur eine ununterbrochene kritische Auseinandersetzung mit
den Quellen, mit den HistorikerInnern und ihren geistigen Voraussetzungen vorzuschlagen
ist, sieht es so aus, als gaebe es wirklich keinen archimedischen Punkt, auf den
man sich bei historischer Arbeit verlassen koennte. Dieser Schlusz ergibt sich
unumgaenglich aus der Logik der Praxis der Geschichte und der Logik der historischen
Erklaerung. Bei dem Streit um Vergangenheitsbewaeltigung geht es also nicht um
die Vergangenheit, die man nur entweder anerkennt oder verleugnet, verdraengt
oder vergiszt, sondern darum, welche Vergangenheiten vorhanden sind und wie eine
von ihnen zu _der_Vergangenheit wird.
Genauso wie bestimmte Darstellungen
der Vergangenheit spezifische politische Ziele in sich schlieszen, setzen politische
Entscheidungen zudem eine bestimmte genetische Darstellung der Geschichte voraus.
Es ist natuerlich keine welterschuetternde Entdeckung, dass Regierungen und deren
Apologeten eine selektive Wahrnehmung von Geschichte zu ihrem Vorteil nuetzen.
Diese Instrumentalisierung findet notwendigerweise statt, weil alle politischen
Entscheidungen eine historische Denkart voraussetzen, wie unvollstaendig und tendenzioes
diese Geschichtsdarstellung auch immer sein mag. Diese Art wechselseitiger Auslese
beeinfluszt nicht nur den Diskurs, in dem politische, wirtschaftliche oder kulturelle
Themen diskutiert werden, sondern auch den Umfang des moeglichem Denkens. Dies
muss nicht als totalitaerer Alptraum verstanden werden, sondern dies ist das,
was jede stabile und dauerhafte Gesellschaft kennzeichnet.
Eine angemessene
Metapher, die der vierschichtigen "Mozartkugel", kann die Macht- und
Informationskonstellationen in der Gesellschaft im allgemeinen bildlich darstellen,
die gewisse Interpretationen der Politik und der Geshichte beguenstigen und die
auch Barrieren gegen eine diesem Machtsystem gegenueber subversive Kritik errichten.
Die Pistanziencreme im Zentrum stellt hier historische Quellen dar. Dokumentarische
Beweismaterialien sind weder selbstverstaendlich noch vollstaendig. Das irgendeine
Untersuchung dieser Quellen eine Geschichte, "wie es eigentlich gewesen"
war (Ranke) darstellen koennte, ist daher zweifelhaft. Die Marzipanschicht repraesentiert
die Fachleute, also HistorikerInnen. Diese untersuchen die Pistazeincreme (die
historischen Quellen). Sie besitzen eine Vielfalt von Interessen, ideologischen
Standpunkten, persoenliche Geschichten, verschiedenen Graden an intellektueller
Ehrlichkeit und wissenschaftlichen Begabungen. Man wird insofern von ihnen eine
Reihe von verschiedenen Geschichtsdarstellungen zur Kenntnis nehmen muessen. Erinnern
wir uns aber an die Institutionen, die die Verbreitung einer Historiographie bestimmen,
und auch an die politischen und informellen Beziehungen, die diese Voraussetzungen
der allgemeinen politischen Kultur binden. Es ist daher nicht schwierig nachzuvollziehen,
dass sich am ehesten eine Historiographie, die den von den institutionalisierten
Maechten bevorzugten gesellschaftlichen Werten entspricht, durchsetzen kann. Ueber
der Marzipanschicht liegt die Nougatcreme, die in unserer Metapher die nichtspezialisierte
Intelligenz darstellen soll. Es ist hauptsaechlich jene Intelligenz, von der die
Bevoelkerung ihre Geschichte kennt. Und woher haben diese Intellektuellen ihre
geschichstbilder? Wenn sie sich mit Geschichte als solcher beschaeftigen, muessen
diese LehrerInnen, JournalistInnen, SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen
auf die Buecher zurueckgreifen, die von den SpezialistInnen geschrieben werden.
Wir haben aber schon gesehen, wie weit entfernt ausgerechnet die professionellen
HistorikerInnen von irgendeiner "Objektivitaet" sind. Diese Intelligenz
ist darueber hinaus auch der Vielfalt der Ideologien, Interessen, Machtkonstellationen
und den Werten der politischen Kultur unterworfen.
All dies laeszt wiederum
erahnen, wie leicht sich das historische Verstaendnis dieser Intelligenz an die
Voraussetzungen einer konsenfaehigen Historiographie anzupassen beginnt. Zuletzt
treffen wir auf die Schokolade, die hier die Bevoelkerung im allgemeinen darstellen
soll. Ihre Begriffe und ihr Wissen von Geschichte bezieht sie fast ausschlieszlich
aus Erzaehlungen ueber die Vergangenheit von verwandten und Bekannten, aus der
Schule, aus den Zeitungen und elektronischen Medien und aus Buechern.
Erinnert
man sich aber daran, wie alle anderen Schichten der Mozartkugel in irgendeiner
Form den herrschenden politischen und kulturellen Voraussetzungen unterworfen
sind, wie abhaengig die Intelligenz von den HistorikerInnen bezueglich ihrer detaillierten
Kenntnisse ueber Geschichte ist und wie wenig HistorikerInnen selbst "objektive"
Darstellungen beanspruchen koennen, und nimmt man an, dass die Schokoladenschicht
eher weniger gebildet ist und nicht die Zeit oder die Gelegenheit hat, sich mit
philosophischen Streitereien ueber die erkenntnistheoretischen Grundlagen unseres
historischen Verstaendnisses zu beschaeftigen, sollten wir dann wirklich ueberrascht
sein, dass es uns nur unter groszen Anstrengungen gelingt, eine kritische Distanz
zu der Darstellung der Geschichte zu gewinnen, die mit den staatspolitischen und
kultuellen Voraussetzungen der Gesellschaftt stark im Einklang steht? Oder anders
formuliert, muss man nicht erwarten, dass sehr wohl eine bestimmte Version der
Geschichte bei breiteren Schichten der Bevoelkerung als "die Vergangenheit"
gilt?
In der Realitaet gibt es natuerlich Moeglichkeiten, diese Zwaenge zu
durchbrechen; denn auf jeder Ebene vermag sich ein kritischer Geist mit einer
intellektuellen Umwelt auseinanderzusetzen. Metaphorisch ausgedrueckt: jeder kann
die ganze Mozartkugel essen und verdauen. Die Moeglichkeit, Erfahrungen zu haben,
die uns fuer alternative Darstellungen empfaenglich machen, besteht immer. Hinzu
kommen die unterschiedlichen Auffassungen, die von Parteiorganen vertreten und
verbreitet werden. Aber die Allgegenwart gerade der Institutionen und allerlei
kultureller Rituale, die diese Moeglichkeiten blockieren, verringert nicht nur
die Warscheinlichkeit, dass wir intellektuell die Voraussetzungen unserer Sozialisation
durchbrechen koennen, sondern sie begrenzt sowohl das Reservoir von Begriffen
und Auffassungen, mit denen wir ein alternatives Wertsystem bilden koennen, als
auch das Idiom, in dem wir ein solches System ausdruecken koennen. Es ist auch
nicht selbstverstaendlich, dass eine Kritik an den gegenwaertigen politischen
Verhaeltnissen automatisch das herrschende Geschichtsbild in Frage stellt. Was
hier als wesentlich festzuhalten ist, sind die eingeschraenkten Moeglichkeiten,
auszerhalb dieser Voraussetzungen ein anderes Geschichtsbild ueberhaupt nachzuvollziehen
und sehen zu koennen.
Die Moeglichkeiten von nichtspezialisierten Menschen,
sich mit den verschiedenen Darstellungen der Geschichte und den darin enthaltenen
Vorstellungen in den oeffentlichen Medien auseinanderzusetzen oder gar zu den
Darstellungen, die in diesen Medien praesentiert werden, eine kritische Distanz
zu gewinnen, sind entsprechend begrenzt. Daraus folgt, dass die Vergangenheit
tagtaeglich bewaeltigt wird, indem jene Version der Vergangenheit, die sich durchgeetzt
hat, Widerhall findet oder bei immer breiteren Schichten als die Geschichte schlechthin
hingenommen wird. Die Vergangeneit wird um so erfolgreicher bewaeltigt, je souveraener
entscheidungsgewaltige Machthaber gesellschaftlicher Institutionen aus irgendeinem
Grund bestimmte Werte auswaehlen die ein gewisses Geschichtsbild voraussetzen.
Es sollte aber nie unterlassen werden, die Frage zu stellen, ob die Darstellung
am unfassendsten die Ursachen oder Urspruenge dieses Ziels kausal erklaert. Kurz
gesagt, man muesste staendig die Frage stellen: wozu _diese_ eine Vergangenheitsbewaeltigung?
Ruth Wodak. "Der Begriff der 'Vergangenheitsbewaeltigung'".
in: Ruth Wodak. _Die Sprachen der Vergangenheiten_. Frankfurt am Main: Suhrkamp,
1994. S. 12-17.
Matze Schmidt. "1.2. Der Begriff 'Zukunftsplanung'
'Vergangenheitsbewaeltigung' Remix". Berlin, 2002.